A. Brüning u.a. (Hrsg.): Orthodox Christianity and Human Rights

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Titel
Orthodox Christianity and Human Rights.


Herausgeber
Brüning, Alfons; Evert, van der Zweerde
Reihe
Eastern Christian Studies 11
Erschienen
Leuven 2012: Peeters Publishers
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Vasilios N. Makrides

Nachdem die Orthodoxe Kirche Russlands als erste Orthodoxe Kirche überhaupt 2008 ihre offizielle Position zum Thema «Menschenrechte» systematisch formuliert hatte, wurde eine neue Phase in den entsprechenden Diskussionen eröffnet, an denen sich auch westliche christliche Kirchen beteiligten. Bis dahin war dieses Thema aus orthodoxer Sicht nur vereinzelt und keineswegs auf normative Weise behandelt worden – im Gegensatz zu den westlichen christlichen Kirchen. Daher verwundert es kaum, dass die internationale Literatur in diesem speziellen Bereich nach 2008 erheblich zugenommen hat (vgl. auch das jüngst erschienene Buch von Kristina Stoeckl, The Russian Orthodox Church and Human Rights, Abingdon/ New York, Routledge, 2014).

Der hier zu besprechende, von Alfons Brüning und Evert van der Zweerde herausgegebene Band fügt sich sehr gut in den oben geschilderten Rahmen ein und stellt einen wichtigen Beitrag zum orthodoxen Verständnis der Menschenrechte und dessen Besonderheiten dar. Beide Forscher beschäftigen sich seit langem mit verschiedenen Aspekten des Orthodoxen Christentums, insbesondere in dessen slawisch-russischen Ausprägungen, und beide haben sich bereits einen Namen in der einschlägigen Forschung gemacht. Mehrere Beiträge des vorliegenden Bandes befassen sich dementsprechend mit der russisch-orthodoxen Tradition in ihrer ganzen Breite, wie zum Beispiel in der ehemaligen Sowjetunion und im postsowjetischen Russland, doch werden auch andere orthodoxe Kulturen (z.B. von Griechenland, Rumänien und Bulgarien) in Betracht gezogen. Der Band geht auf eine internationale Konferenz zum Thema im Radboud Universität Nijmegen (9.–11. Februar 2009) zurück und enthält insgesamt 18 Kapitel, die in sechs verschiedene thematische Einheiten gegliedert sind: die beanspruchte, gleichwohl umstrittene Universalität des (westlichen) Menschenrechtskonzeptes; die grundlegende oder relative Verschiedenartigkeit des orthodoxen Ostens und des lateinischen Westens; die diversen und nicht immer kompatiblen Menschenrechtskonzepte, die in der orthodoxen Welt und anderweitig im Umlauf sind; die Beziehungen zwischen orthodoxer Theorie zu Menschenrechten und gesellschaftlicher Realität; die Menschenrechte im Spannungsfeld der Beziehungen zwischen Kirche, Staat und Gesellschaft in der orthodoxen Welt; und schließlich die Menschenrechtsthematik im Kontext orthodoxer Aktivisten und des soziopolitischen Engagements der Orthodoxen Kirchen.

Dass die Beziehungen des Orthodoxen Christentums zur modernen Menschenrechtsidee viele Ambivalenzen aufweisen, ist bereits bekannt, und dies wollen die Herausgeber auch nicht verschweigen, wie schon allein deren Einführung deutlich zu entnehmen ist (1–15). Jedoch wäre es falsch, aus der zugegebenermaßen verbreiteten orthodoxen Kritik an den modernen Menschenrechten den Schluss zu ziehen, die Orthodoxie sei diesen Menschenrechten gegenüber vorwiegend und grundsätzlich negativ eingestellt. Es gibt verschiedene und mitunter entgegengesetzte orthodoxe Positionen zu dieser Frage, auch wenn diese nicht so normativ und bindend sind wie die oben erwähnte Stellungnahme der Orthodoxen Kirche Russlands von 2008. Ohne also die existierenden Probleme unter den Tisch kehren zu wollen, unternehmen die Autoren der verschiedenen Beiträge in diesem Band Versuche, die Vielfalt und Pluriformität der orthodoxen Positionen zu den Menschenrechten ans Licht zu bringen, kulturgeschichtlich zu verorten und passend zu deuten. Nicht zu vergessen ist allerdings, dass trotz der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 keine absolute Einigkeit bezüglich eines gemeinsamen und allgemein gültigen Konzeptes von Menschenrechten weltweit besteht, denn diese werden von religiösen, philosophischen, liberalen, säkularen, politischen und anderen Akteuren jeweils abweichend konzeptualisiert und gedeutet – die Beiträge von van der Ven (19–34), van der Zweerde (35–67) und Pribytkova (69–82) verdeutlichen dies. Ähnliche Ambivalenzen gelten in diesem Zusammenhang für die Beziehungen zwischen orthodoxem Osten und lateinischem Westen. Hier handelt es sich um zwei religiöse Kulturkomplexe, die nicht a priori als völlig entfremdet und inkompatibel zu betrachten sind. Es bedarf zuerst einer Historisierung, um wahrnehmen zu können, wann, wie und wo die Probleme zwischen diesen beiden Welten auftauchten und anschließend bestimmend wurden. Selbst in Perioden der Spannung und des Konflikts gab es diverse Kommunikationskanäle und Austauschmöglichkeiten zwischen beiden Seiten, sodass westeuropäisches bzw. westliches Gedankengut (u.a. in Bezug auf die Menschenrechte) im orthodoxen Osten mehrmals Eingang finden konnte. Gleichzeitig sollte nicht übersehen werden, dass der berühmterüchtigte, stark ideologisch gefärbte orthodoxe Antiokzidentalismus in vielen Fällen ein Hindernis zu einem produktiveren Dialog zwischen der orthodoxen Theologie und dem modernen Menschenrechtskonzept darstellt – die Beiträge von Dmitriev (86–109), Art-myeva (111–123) und Brüning (125–152) heben dies heraus. Ein weiteres, nicht zu leugnendes Problem im Ost-West-Dialog zum Thema besteht in der Verschiedenartigkeit der Konzeptualisierungen von Menschenrechten und deren Hintergrund (z.B. in Bezug auf das Verständnis von menschlicher Würde). Dies wird zunächst aus den laufenden bilateralen Gesprächen orthodoxer und westlicher (insbesondere protestantischer) Kirchen erkennbar. Trotzdem sind die unterschiedlichen Positionen individueller orthodoxer Denker zum Thema ziemlich ambivalent und keineswegs identisch, vergleicht man zum Beispiel die Ideen von S. N. Bulgakov mit denen von Christos Yannaras – hierzu die Beiträge von Hurskainen (155–168), Zwahlen (169–186) und Stoeckl (187–198). Die orthodoxen Besonderheiten in puncto Menschenrechte lassen sich ferner nicht nur theologisch, kirchen- oder ideengeschichtlich untersuchen, sondern auch empirisch gemäß der Situation in verschiedenen mehrheitlich orthodoxen Ländern oder Milieus, und zwar mit der Ab-sicht, eventuelle Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis zu lokalisieren – dazu sehr nützlich die Beiträge von Marsh und Payne (201–214), Naletova (215–235) und Turunen (237–249). Dass das Thema der Menschenrechte im breiteren Rahmen der Staat-Kirche-Beziehungen in der heutzutage in Richtung Osten erweiterten Europäischen Union verortet werden kann, ist schon hinlänglich bekannt. Auf der ande-ren Seite offenbart dieses Thema die zahlreichen orthodoxen Eigentümlichkeiten, die zu Spannungen oder Konflikten in Bezug auf viele damit verbundene Aspekte (z.B. Privilegierung der Orthodoxie, Rechte der religiösen Minderheiten) führen. Die Unterschiede zwischen orthodo-xen Ideen und modernen Sozialtheorien bleiben ohnehin unübersehbar. All dies ist den Beiträgen von Walters (253–270), Agadjanian (271–292), Preda (293–313) und Kalkandjieva (315–334) zu entnehmen. Schließlich lässt sich das Thema der Beziehungen zwischen Orthodoxie und Menschenrechten anhand der Rolle diverser orthodoxer Kleriker veranschaulichen, die in konkreten Zusammenhängen damit aktiv und praktisch umgehen. Der gleiche Erkenntniswert findet sich in den Reflexionen orthodoxer Kirchen, Theologen und Aktivisten über den notwendigen tatkräftigen und regen orthodoxen Beitrag zur Ge-sellschaft, der sich aus orthodoxen Quellen speist – dazu die Beiträge von Baars (337–350) und Shishova (351–364).

Angesichts der oben geschilderten thematischen Breite füllt dieser Band zweifellos eine große Lücke in der entsprechenden Forschung, denn er ist nicht nur ange-messen konzipiert und strukturiert (u.a. mit kurzen Zusammenfassungen zu Beginn jedes Kapitels), sondern auch sehr material- und perspektivenreich. Zudem zeichnet ihn eine hochgradige Interdisziplinarität aus, denn die einzelnen Beiträge entstammen unterschiedlichen Disziplinen und Standpunkten, wie zum Beispiel Theologie, Geschichte, Philosophie und Soziologie. In einigen Beiträgen wird der Versuch unternommen, eine Verbindung zwischen orthodoxer Reflexion und empirischer Realität herzustellen, was in der Tat zum Erreichen einer wirklichkeitsnahen Wahrnehmung der Situation in mehrheitlich orthodoxen Ländern und Kulturen jenseits teilweise abstrakter Konzepte, Prinzipien und Orientierungen erforderlich ist. Dieser Band kann zudem in vielerlei Hinsicht wertvolle Anregungen zur weiteren Untersuchung und Vertiefung der darin besprochenen Themen geben, insbesondere in Hinblick auf die Begegnung der orthodoxen Welt mit der Moderne insgesamt. Konkreter ausgedrückt: Die Probleme der orthodoxen Welt mit den Menschenrechten lassen sich mutatis mutandis auch in der islamischen Welt beobachten. Denn beide, Orthodoxie und Islam, haben erhebliche Schwierigkeiten mit der (westlichen) Moderne, obschon keine grundsätzliche Inkompatibilität mit ihr. Es geht hier um die besondere Begegnung nicht-westlicher religiöser Kulturen mit der Moderne, die partiell, spannungsvoll und konfliktträchtig verlaufen ist, was unter anderem die Menschenrechte unmittelbar betrifft. Ein genauer Vergleich der entsprechenden orthodoxen und islamischen Positionen zum Thema wäre daher wünschenswert. Hierfür bietet dieser Band eine exzellente erste Grundlage.

Kurzum: Nicht nur aufgrund der oben erwähnten Beispiele, sondern auch wegen seiner vielen weiteren Vorteile ist dieser Band empfehlenswert. Das gilt einerseits für den engeren Kreis der Menschenrechtsspezialisten, die sich aus diversen Perspektiven mit dem Thema beschäftigen und sich für die transkulturelle und transreligiöse Rezeption der Menschenrechtsthematik interessieren, andererseits für all jene, die sich mit den Besonderheiten orthodoxer Kulturen befassen, insbesondere im Vergleich zum westlichen Lateinischen Christentum. Die jeweilige Rezeption der Menschenrechtsthematik in diesen christlichen Kirchen kann auf geradezu ideale Weise die Unterschiede verdeutlichen, die diese Institutionen gegenwärtig noch trennen und die vielleicht heute eine viel größere Rolle spielen als die dogmatischen Unterschiede und Konflikte der Vergangenheit.

Redaktion
Veröffentlicht am
19.01.2017
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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